Zillo-Festival, Hildesheim
Samstag, 14. August 1999
 
Der Wecker klingelte mit unbarmherziger Genauigkeit um halb sieben. Selten war ich um diese Uhrzeit bei Bewusstsein. Aber die Gewissheit, dass es heute einen interessanten Tag geben wird, hat es mir einfacher gemacht, aufzustehen. Kurz unter die Dusche, rein in die Klamotten - Shit - nicht mehr genügend Zeit zum Frühstücken und keine Ahnung, wann die nächste Gelegenheit zum Essen kommt. Egal. Sogar noch pünktlich - was für mich eher ungewöhnlich ist - kam ich dann zu den vereinbarten acht Uhr zeitgleich wie Lenz zu der WG von DeziBel, weil der nach einer langen Auflegenacht erst um 6 h aus Herford zurück war. Er verzichtete auf die Dusche, aber nicht aufs Frühstück, indem er halb angezogen, mit einem halb vollgestopften Rucksack unter dem Arm und einer improvisierten Schnitte Brot in der Hand mit uns zum Auto ging. Also Startschuss, auf die Autobahn. Ziel war das Zillo-Festival in Hildesheim bei Hannover. Auf dem Weg dorthin musste ich Lenz erst einmal aufklären, was uns da erwartete. Der ging nämlich die ganze Zeit von einem Punk-Festival aus, weil er wohl noch nie eine Ausgabe vom Zillo in der Hand hatte... er war gespannt - und ich auch.
 
Andree und Loon sind mit dem Dreizack direkt aus Hüsten gestartet, diesmal ohne den "Commander" Michael Schwarzer, da der einen anderen Misch-Job hatte (und Lenz fand das gar nicht so toll). Das langersehnte Frühstück servierte uns dann ein der deutschen Sprache nicht ganz mächtiger Mitarbeiter von McD. Myam, in Currysauce getunkte Pommes sind nicht besonders nahrhaft, aber egal, wir waren froh, dass es überhaupt was gab.
 
Die Unterlagen, die Lenz von der Organisation des Zillo-Festivals bekommen hatte, liessen darauf schliessen, dass diese Veranstaltung perfekt durchdacht und organisiert ist. Wir hielten da einen "Rider" in der Hand, der sämtliche wichtigen Informationen enthielt, die man sich nur vorstellen kann. Da standen in zwei Sprachen sämtliche Ansprechpartner, der Programmablauf, ausführliche Wegbeschreibung, Plan von der Location, Catering-Speiseplan, lokaler Pannenservice, bis hin zum lokalen Apothekennotdienst - einfach alles! In Hildesheim wurden wir von einer perfekten Ausschilderung zum Zillo-Festival geleitet, das am Sportflughafen stattfand.
 
Die Menschen (ich bin mir nicht wirklich sicher, ob es Menschen waren), die sich da zu Fuss in Richtung Festival bewegten, liessen da schon eine kleine Ahnung aufkommen, was da für Gäste im Publikum stehen werden... *schluck*. Besonders witzig war der Typ, der sich wegen seiner auftoupierten Frisur bei der Autobahnbrücke ducken musste... nein, quatsch, das war übertrieben, aber man kennt ja diese Gattung. der hat auf jeden Fall für die Gänsehaut Nummer Eins gesorgt.
 
Der beigefügte Durchfahrtsschein ermöglichte uns nach kurzer Kontrolle den problemlosen Zugang zum Backstage-Bereich des Festivalgeländes, wo uns direkt ein grooviger, symphatischer Kollege empfing und sich freundlich vorstellte. "Hi. V-LENZ? Ah, schön, dass ihr da seid. Ich bin Olli und Euer Mädchen für alles." Er zeigte uns , wo wir am günstigsten parken und ausladen konnten, wo der "Dressing Room" (hohoooo... Joghurt oder Öl-essig? *schmunzel*) und das Catering zu finden war und bot uns seine Hilfe in allen Bereichen an, wir könnten uns mit jedem Problem an ihn wenden. Wow. Korrekt. So muss das sein. Lenz und ich waren schwer beeindruckt und fühlten uns pudelwohl und gut umsorgt. Vielleicht war mir persönlich der Olli auch deshalb so sympathisch, weil er genau den Job machte, der wie geschaffen für mich ist. Das ist genau das, was ich am Besten kann - Bands betreuen, Konzert- und Stage-Management. Ich erkannte mich haargenau in diesem Typen wieder, weil ich versuchte, zum Beispiel auf dem Arnsberger Schlossberg-Festivals genau den Service und die gute Arbeit abzuliefern, die der Typ uns da bot.
 
Wir luden entspannt aus, bauten den Gong auf und trugen den Kram mit der Hilfe von "drölf" Stagehands auf bzw. hinter die Bühne, die so gross und gewaltig war, dass selbst Lenz der Atem stockte. da standen schön sauber beschriftet alle einzelnen Drum-Riser von allen Bands rum. Wir strichen kurz über den Riser von Paradise Lost als uns ein freundlicher Bühnenmann auf den DJ-Tisch hinwies. und da stand tatsächlich ein komplett vorbereitetes, mit schwarzem Teppich sauber abgeklebtes und mit "V-LENZ, DJ-Tisch, Samstag 13:40 h" beschriftetes Bühnenelement als DJ-Tisch (God is wohl doch a DJ...). Ok, Turntable-Case drauf, vorverkablen, fertig. Das war alles fast zu schön, um wahr zu sein.
 
Wir hatten noch gut anderthalb Stunden Zeit, bis wieder etwas für uns zu tun war. Also Schauten wir uns erstmal ein wenig um. Das war alles schon sehr imposant anzusehen. Man muss sich das so vorstellen: da waren zwei Hangar, ein "Verwaltungs"- Gebäude oder so was und eben die Bühne und das restliche Festivalgelände. In dem einen Hangar waren (schön in der Mitte abgetrennt) ein riesiger Catering-Bereich und auf der anderen Seite eine Tanzfläche mit viel Licht- und Tongeraffel aufgebaut - wie sich später rausstellte, sollte hier eine riesige After-Show-Party für alle Beteiligten stattfinden - an der wir ja leider nicht teilnehmen konnten, da wir ja am selben Tag noch einen weiteren Gig in Arnsberg auf dem Programm hatten (pruust). Jaja, das Leben ist halt eins der härtesten. In dem anderen Hangar war auch noch Programm, zeitgleich zur Hauptbühne, da spielten halt so semi-bekannte Bands der Szene. In dem Verwaltungsgebäude waren einfach zwei grosse Flure mit Dutzend Zimmern, alle schön sauber beschriftet. Da stand sowas wie "Büro Produktionsleitung" oder "Dressing Room Witt" oder Wolfsheim, Paradise Lost, V-LENZ, ... sah gut aus... Wir betraten unseren Raum und Lenz & DeziBel waren total begeistert. Gut, das war ich auch, aber ich hatte zu berichten, dass der Backstage-Bereich für puppetland (mit denen ich auch unterwegs bin) beim BördeBebt-Festival genau so aussah. Tisch, Stühle, Spiegel, Süssigkeiten und ein nettes Pflänzchen auf dem Tisch, daneben eine grosse Wanne voller Bierflaschen und Softdrinks in Dosen, aufgefüllt mit Eiswürfeln. An der Wand hing ein ausführlicher Ablaufplan und noch mal eine Liste mit relevanten Telefonnummern der wichtigsten Ansprechpartner. So muss das sein. Ok, wir hatten Zeit und Hunger. Also - Catering checken. Wir gingen zu dem entsprechenden Hangar, wurden von einer verdammt netten jungen Dame (also bis jetzt sehen hier alle noch normal aus...) in Empfang genommen. Sie checkte kurz unsere Backstagepässe, klebte einen amüsanten "Lizenz zum Essen"- Aufkleber darauf und wünschte uns einen guten Appetit. Dann betraten wir den direkten Futterbereich und spätestens jetzt wurde klar, dass Waver und Gothik-Freaks irgendwie ein bisschen anders drauf sind... Da hingen neben dem Obst diverse Leichenteile, neben dem Salat stand ein rostiger Fleischwolf mit einer Ratten-Attrappe drin, das Besteck lag in rotem Samt, bewacht von einigen Totenschädeln und man möchte glauben, dass auf allen Friedhöfen der Umgebung kein einziges Grablicht mehr steht, weil nämlich alle hier auf den Tischen standen... ui... Wir waren aber in keinster Weise schockiert, eher amüsiert. Das Essen war reichlich und gut, es war von allem das Beste und davon genug. Der gläserne Kühlschrank war auch immer voll und gut sortiert (sogar Liptonice Eistee!!!! = Megapluspunkt!!). Hyperhighlight war auch die aufgebaute Carrera Bahn, die da zur allgemeinen Belustigung der hungrigen Künstler und Crew beitrug.
 
Nachdem wir wieder gestärkt und satt waren, galt es, das "allgemeine" Festivalgelände zu checken. Wir gingen an der Hangarbühne vorbei und standen dann mitten zwischen den Leuten. "Himmel und Hölle..." ist in diesem Fall nicht nur ein Ausruf des Erstaunens, den wir drei alle gleichzeitig hauchten, sondern eine gute Umschreibung für das, was sich da unseren ungläubigen Augen bot. Zum Glück waren wir auch recht dunkel gekleidet, damit wir nicht allzu krass wie die bunten Hunde unter den schwarzen Vögeln auffallen. Totenbleich geschminkt, nach Leichenbalsam duftend (oder stinkend - liegt in der Nase des Betrachters, äh... Riechers), irgendwelche Samt-Klamotten im mittelalterlichen Stil, Handschellen und Piercings brisantester Art - waren da Standard! Und die richtig verrückten Beispiele spotten jeder Beschreibung... wir hatten Angst, ehrlich. Wir kennen ja dieses friedliebende Volk, aber da war der düstere Hauch des Todes in der Luft und der war furchteinflössend. Wir schlenderten zu den Ständen, bei denen allerlei interessante Sachen angeboten wurden. Irgendwann verlor ich Lenz und DeziBel für einen Moment aus den Augen und dachte mir nur "Nein, lasst mich hier nicht allein!". Ähnlich war es später mit Lenz, der alleine loszog um Andree und Loon in Empfang zu nehmen und einfach nicht wieder kam. DeziBel und ich spekulierten die fiesesten Horror-Möglichkeiten durch und vermuteten, dass wenn wir nun bei Lenz auf dem Handy anrufen, sich eine dunkle Dämonen-Stimme meldet und gemein "Hallooooo?" grunzt, weil Lenz direkt zur Hölle gefahren und dort verspeist worden ist. Er tauchte dann aber zum Glück doch wieder unbeschadet auf...
 
Das Festival-Gelände war so gewaltig gross, dass wir gar nicht alles sehen konnten. Die Stände und Fressbuden schienen am Horizont unendlich weiterzugehen. Da fing gerade eine Combo an, die sehr typisch für dieses Event war: begleitet von einem Horror-Sound-Intro inszenierten da zwei finster gekleidete Typen einen Schwertkampf, in dem der eine dutzende Male starb und wieder aufstand, weiterkämpfte, starb, weiterkämpfte... *gähn*... Irgendwann kamen dann doch mal Musiker auf die Bühne. Aber besser wurde es trotzdem nicht. Ein Heavy-Metal Gitarrist stand da einsam im Hintergrund zwischen zwei wildgewordenen Freaks, die wie bescheuert auf ein paar E-Drums einschlugen. Der Sänger kam dann mit einer "Hanibal Lector"-Maske auf die Bühne und gab schlechtes zum Besten. Naja - wie hätte es auch anders sein können - die wurden natürlich begeistert von der Menge gefeiert *stirnrunzel*. Es wurde langsam Zeit mich mit einer Aufgabe für heute zu beschäftigen. Diesmal war ich nämlich - weil der Commander ja nicht da war - als DAT-Bediener in Mission. Lenz stiefelte mit mir zum FOH-Mischer, stellte sich und dann mich vor, gab mir das DAT-Band und schrieb eine Setlist für mich. Wir sprachen noch einige Timing-Sachen ab und dann verschwand er auch schon wieder. Die Bühne wurde vorbereitet, obwohl es da ja nicht mehr viel vorzubereiten gab, weil das meiste ja schon längst im Vorfeld erledigt wurde. Gong, Roto-Toms und DJ-Tisch drauf, fertig. Eine Bühnenscherge fegte von Mikro zu Mikro, sagte einmal kurz "Check" und "Hallo", fertig. Das Backdrop wurde professionell an einer Traverse befestigt, die auf Knopfdruck hochgezogen wurde und hier sah das riesige Teil zum ersten Mal klein (!!!) aus.... Sonst hat man eher Probleme, das Ding auf einer Bühne überhaupt unterbringen zu können, doch hier war es nur ein Spielzeug, das wie ein leckeres Accessoire auf der Mega-Bühne fast unterging. Als ich dann erstmal die gesamte Dimension dieser Bühne realisierte, kam der Pyrotechniker in mir hoch. Das wäre zu schön gewesen, hier satt Pyroeffekte auf der Bühne zu verteilen und hochgehen zu lassen, aber um 14 h nachmittags kommt das wohl nicht so gut. Naja, nächste mal.
 
Linecheck war also abgeschlossen. Ein komischer Organisator/Moderator (Ecki Stieg) kündigte V-LENZ an. Die Bühne wurde eingenebelt (was aber zur Mittagszeit ein wenig seine Wirkung verfehlte), die Jungs kamen auf die Stage und knieten sich hin - das war mein Zeichen für den Start von "Apokalyptische Verse". Der DAT-Recorder war irgendwie ziemlich benutzerunfreundlich zu bedienen, aber ich hab's trotzdem ganz gut hingekriegt. Es war leider nicht ganz so voll vor der Bühne, wie bei der Band davor, aber naja trotzdem standen da schon eine Menge Leute, wenn man bedenkt, dass da insgesamt 12.000 Freaks rumrannten. Teilweise liefen die Waver kopfschüttelnd und vogelzeigend davon, andere kamen interessiert näher. Als vorletzter Song kam dann "Der Henker". Der war letztes Jahr auf dem Zillo- Sampler, daher kannten ihn sehr viele Anwesende. Lenz kündigte den Song an und suchte die Unterstützung vom Publikum. Er wollte alle Leute "der Henker, der Henker" brüllen hören... ich habe noch nie brüllende Waver erlebt, aber allen Klischees zum Trotz hatte es funktioniert. So viele Leute wie nie zuvor schrien wie aus einer Kehle "Der Henker, der Henker!" - boah, beeindruckend. Selbst Kruse ist die Kinnlade runtergegangen. Zum Schluss hatte wohl der Text von "Fahr zur Hölle" (haha) die Fans angesprochen, aber der Sound war wohl doch zu abgefahren. Naja, resümeeziehend muss man sagen, dass es auf jeden Fall ein Erfolg war und ausserdem haben die Jungs zuvor noch nie auf einer so grossen Bühne gespielt und der V-LENZ-Sound wurde auch noch nie über soviel Kilowatt wie hier in die Welt gepustet... der Bass von "Schwarze Wünsche" zum Beispiel verwirbelte jede zweite Fönfrisur auf dem Platz.
 
Nach dem Gig schnappte ich mir das DAT-Tape, den Boss VT-1 (Effektgerät) und traf die Jungs im Backstagebereich. Wir wollten den Kram von der Bühne holen, jedoch waren da ein paar Stagehands, die wollten uns gar nicht lassen: "Sollen wir Euch etwas abnehmen? Dafür sind wir schliesslich da." Na gut, also gaben wir Commandos - das dahin, und das dahin. Geil! Anschliessend hauten wir uns noch ordentlich die Bäuche voll, tranken den Rest der Getränke aus unserem Dressing-Room und machten, das wir loskamen, wir mussten ja schliesslich noch einen Gig in Arnsberg absolvieren.